MYTHEN DER WAHRNEHMUNG – ARGOS
Musik siegt –
Die Geschichte von Argos und Hermes
Michel Serres im Interview

zum Thema:
Nachdem Zeus, um seine Geliebte Io vor Hera zu retten, diese in eine weiße Kuh verwandelt hat, erbittet Hera, die die List durchschaut, die Kuh als Geschenk. Um ihren Gatten Zeus daran zu hindern, sie mit Io zu hintergehen, beauftragt Hera den hundertäugigen Argos, die Nymphe zu bewachen. Zeus, der die Qualen Ios nicht mehr ertragen kann, schickt seinen Sohn Hermes, um sie zu befreien.

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WAS TUT HERMES?
Hermes versucht nicht, sich mit Argos auf einem Gebiet zu messen, auf dem er unschlagbar ist. Die Quellen sagen Verschiedenes darüber, wie er ihn überlistet, ich habe daraus Folgendes gezogen: Hermes fertigt sich eine Syrinx, das heißt, er schneidet im Schilf eine Panflöte. Und da taucht Pan wieder auf: Pan gegen Panóptes: die Gesamtheit aller Töne gegen die Gesamtheit aller Blicke! Der große Kampf des Hörens gegen das Sehen. Wer wird gewinnen, was geschieht? Der Klang der Flöte rührt den Riesen so sehr, dass sein Blick vor Tränen ganz verschwommen ist, er sieht nichts mehr! Bald übermannt ihn eine große Lethargie, und nun ist es für Hermes ein Kinderspiel, ihm den Kopf abzuschlagen. (…)

WIE INTERPRETIEREN SIE DIESEN SIEG?
Als die Überlegenheit des Klangs gegenüber dem Sehen: Das Sehen fixiert einen Ort. Das Panoptikum verstärkt dies noch einmal, wie ein Zusammenspiel von mehreren Kameras. Aber der Klang? Der Klang ist ein Ereignis, das keinen Ort hat, es füllt den Raum aus. Das Objektiv einer Kamera kann man schwärzen oder abdecken, der Klang aber wird die Ohren erreichen. Warum wurde Argos besiegt? Weil der Klang seine Haut vor lauter Emotionen hat erzittern lassen und Tränen bei ihm ausgelöst hat. Der Blick schafft Distanz, die Musik berührt. Die Klangwelle kommt dahin, wo eine Lichtquelle nicht hingelangen könnte. Die Augen können Sie schließen, aber nicht die Ohren. Das stößt alles um, was bisher über die Macht unserer von Bildern dominierten Kultur gesagt wurde. (…) In einer Welt, aus der die Information bereits verschwunden ist, verweist der Klang das Sehen auf seinen Platz zurück. (…)“

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Michel Serres ist ein französischer Philosoph. Das Interview erschien in der Zeitschrift philosophie Magazin. Sonderausgabe 02: Die griechischen Mythen- Was sie über uns verraten. S. 68/69